Die Rentenversicherung ist viel besser als ihr Ruf

Die staatliche Umlagefinanzierung hat Probleme - aber nur sie allein ist wirklich sicher.  
 
"Die Rente ist sicher": Jedenfalls sicherer als jedes Alterseinkommen aus der kapitalgedeckten Privatversicherung. In Sachen Sicherheit schneidet im Systemvergleich die Privatversicherung schlecht ab. In der Inflation, bei Börsenkrach und unter Währungsturbulenzen kommt die Privatversicherung ins Schleudern. So war das immer und so wird es auch bleiben. Von 112 000 Pensionskassen überlebten in den Vereinigten Staaten gerade mal 32 000. So etwas ist in der Rentenversicherung noch nie passiert. Immer zahlte die Rentenversicherung zuverlässig selbst in Kriegs- und Nachkriegszeiten.

Weltweit wackeln die Pensionsfonds. Gerade bringt der Pensionsfonds von General Motors die Weltfirma in Bedrängnis, weil er seine Zusagen nicht halten kann. Hierzulande bestanden den Stresstest der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen von 86 Lebensversicherungen gerade mal 36. Die Mindestverzinsung der Lebensversicherung ist in den vergangenen Jahren mehrmals abgesenkt worden. Die Beiträge in der Privatversicherung steigen schneller als in der Sozialversicherung. Wären die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung beispielsweise so gestiegen wie in der privaten Krankenversicherung, wäre der Beitragssatz in der Gesetzlichen Krankenversicherung bei 18 Prozent angelangt. Die Folgen der demographischen Veränderung wurden in der Privatversicherung später in die Anspruchsberechnungen eingestellt als in der Rentenversicherung. Jahrelang arbeitete sie mit veralteten Sterbetafeln. Klammheimlich musste der Bund mit Milliarden der Privatversicherung beispringen, um den Kollaps einiger Versicherungen zu vermeiden. Kein Hahn kräht danach. Doch wenn es gilt, die Rentenversicherung madig zu machen, dann allerdings sind alle Lobbyisten an Bord.

Die Rentenversicherung braucht keinen Vergleich zu scheuen. Für Verwaltung gibt die Privatversicherung zwischen 15 und 25 Prozent der Einnahmen aus. Die Rentenversicherung wendet dafür nur 1,5 Prozent der Einnahmen auf und muss zudem auch keine Gewinninteressen von Aktionären stillen. Warum redet eigentlich keiner über diese Unterschiede? Die Antwort ist einfach: Je madiger die Rentenversicherung gemacht wird, um so mehr klingelt das Geld in den Kassen der Privatversicherung. Es ist nicht immer Zukunftssorge, was die Rentenkritiker treibt, sondern häufig sind es handfeste Geschäftsinteressen.

Nun bestreitet ja niemand, dass die Rentenversicherung  vor  Problemen steht, die gelöst werden müssen. Di größte davon ist die Arbeitslosigkeit. Aber von diesen Problemen ist die Privatversicherung auch betroffen. Wer bezahlt eigentlich die Beiträge zur Privatversicherung, wenn der Kunde krank oder arbeitslos ist? In der Rentenversicherung sind dies keine verlorenen Zeiten. Kranken- und Arbeitslosen-Versicherung springen als Beitragszahler ein. Dass die Privatversicherung gegen demographische Veränderungen immun sei, ist ein sozialpolitisches Märchen. Wenn der Nachschub an Beitragszahlern schwächer und der Zugang der Alten stärker wird, kommt auch die Privatversicherung in Bedrängnis. Dann muss sie Kapital abbauen. Das führt herkömmlicherweise zu Renditeverlusten.

Freilich, die kapitalgedeckte Privatversicherung hat gegenüber der umlagefinanzierten Rentenversicherung einen Vorteil. Ihr Quellgebiet ist größer. Sie ist nicht auf nationale Wertschöpfung angewiesen, sondern kann weltweit anlegen. Vorerst allerdings mit Aussicht auf Rendite nur in Ländern, die die gleichen demographischen Probleme haben wie wir. Und die Hoffnung, dass die Dritte Welt mit unserem Kapital auf Dauer die Zinsen erwirtschaftet, mit denen unsere Alten bezahlt werden, ist verwegen. Die Stärke, dass die Kapitaldeckung weltweit angelegt werden kann, ist gleichzeitig die wunde Stelle ihrer Sicherheit, durch welche sie sich mit den unkalkulierbaren Überraschungen der Weltwirtschaft infiziert. So viel steht fest: Eine börsenorientierte Alterssicherung birgt mehr Risiken als ein lohnbezogenes Umlagesystem. Der deutsche Aktienindex ist beispielsweise zwischen 1999 und 2002 um 60 Prozent gefallen. 955 Milliarden Euro sind an der deutschen Börse in dieser Zeit durch den Kamin gerauscht. So windig geht es in einer lohnbezogenen Alterssicherung Gott sei Dank nicht zu.

 

Wer es mit der Leistungsgesellschaft gut meint, liefert unseren Sozialstaat nicht der Anbindung an das Kapital aus. Der Lohn hat bessere Beziehungen zur Leistung als die Spekulation. Wenn das Kapital nicht wieder stärker von Leistung und Arbeit legitimiert wird, bringt sich der Kapitalismus selber um. Eine globale Finanzwirtschaft, deren Transaktionen zu 95 Prozent nichts mehr mit Wertschöpfung und realen Gütern zu tun haben, die sich von der Arbeit emanzipiert hat, die fusioniert, Aktienpakete hin und her jongliert, endet wie ein Illusionskünstler mit seinem Luftballon: Im großen Knall. Die mächtigen Pensionsfonds haben schon genügend Durcheinander in der Weltwirtschaft angerichtet und ganze Währungssysteme in Turbulenzen gestürzt. Es besteht kein Bedarf, ihren Einfluss zu stärken. Institutionelle Anleger ruinieren jede Unternehmenskultur, weil sie die Unternehmensbindung auflösen. Kapitalismus ohne Arbeit ist spekulative Gaukelei.

Die Welt hat genug Aufgaben für Arbeit und deshalb ausreichend potenzielle Beitragszahler für die Sozialversicherung. Es ist kurzsichtig, das Alterssicherungssystem von der Arbeit abkoppeln zu wollen. Denn zu guter Letzt hängt der Wohlstand von der Arbeit ab. Wer die Sozialbeiträge von der Arbeit abkoppelt, hat dadurch nicht aus der Welt geschafft, dass die Versicherungen auf Einnahmen angewiesen sind. Die Beiträge werden aus dem Geldbeutel bezahlt, der noch immer vorwiegend durch Arbeitseinkommen gefüllt wird. Und spätestens bei den kommenden Lohnverhandlungen wird zum Beispiel ein entfallener Arbeitgeberbeitrag kompensiert werden müssen, und zwar nicht nur im Interesse der Arbeitnehmer, sondern um des gesamtwirtschaftlichen Nachfrageeffektes wegen, der durch Lohnkürzungen von rund 20 Prozent erheblich lädiert würde.

Arbeit ist die Quelle, aus der soziale Sicherheit schöpft. Selbst wenn die doppelte Anzahl von Kindern geboren würde, die Kinder aber als Erwachsene keine Arbeit hätten, wäre nichts gewonnen. Wenn Geburtenzahlen allein ausreichen würden, soziale Sicherheit zu schaffen, müssten im Kongo, in Brasilien und Indien hohe Renten gezahlt werden.
 
Von Norbert Blüm    
Süddeutsche Zeitung 23.3.2006